Die wichtigsten Konzepte für Kinder mit chronischer Beeinträchtigung lassen sich in 6 Worten zusammen: Funktion, Familie, Fitness, Freunde, Fun (Spaß) und Future (Zukunft). Der folgende Text erklärt das F-Wort „Future" und seine Bedeutung anhand von Praxisbeispielen.

Serie Teilhabe-Orientierung in der Sozialpädiatrie: Die F-Wörter

Vor 10 Jahren haben Peter Rosenbaum und Jan Willem Gorter den Artikel "The ‘F-words’ in childhood disability: I swear this is how we should think!" [1] veröffentlicht. Die Autoren fassen dabei die wichtigsten Konzepte für Kinder mit chronischer Beeinträchtigung in 6 Worten zusammen: Funktion, Familie, Fitness, Freunde, Fun (Spaß) und Future (Zukunft). In einer Arbeitsgruppe wurde der F-Words-Artikel ins Deutsche übersetzt. Dieser steht – ebenso wie weitere deutschsprachige Materialien – auf der CanChild-Seite als Download zur Verfügung. Die Seite erreichen Sie über https://canchild.ca/en/resources/canchild-german. In der KiPra-Ausgabe 1/2023 erschien ein erster Einführungstext. Wir schließen die Serie der einzelnen F-Wörter anhand von Praxisbeispielen mit dem Wort „Future“ ab.

"Future" bildet in der Reihenfolge der 6 F-Wörter den Abschluss – allerdings ist es sehr häufig eines der ersten Worte der Eltern, wenn sie mit ihrem Kind bei uns vorstellig werden, da es das Wort ist, auf das alle anderen 5 hinzielen. "Future" fasst die übrigen F-Wörter zusammen und nimmt die Erwartungen und Träume für die Zukunft der Kinder, Jugendlichen und Eltern auf. Das ist offensichtlich, wird aber in unserem oft sehr funktionellen medizinischen Denken vernachlässigt und sollte einen wesentlichen Baustein der Handlungsplanung darstellen. "Future" kann sich auf längerfristige Träume, z. B. Berufsausbildung oder selbstständiges Wohnen beziehen, oder auch auf kürzerfristige Ziele und Wünsche, wie z. B. die Teilnahme an Freizeitaktivitäten mit Gleichaltrigen oder an einem Feriencamp im nächsten Sommer.

© CanChild - McMaster University
"Future" – Punkt 6 von 6 im Poster "Zerebralparese: Meine wichtigsten Worte" [2].

Lisa, 12 Jahre: Meine Klasse fährt nächstes Jahr für eine Woche ans Meer – da will ich mitfahren!

Das ist Lisas großer Wunsch – sie will "richtig" dazugehören und Teil der Klassengemeinschaft sein. Die Überlegungen können nun die Sorgen der Eltern aufgrund der Epilepsie bei Lisa betreffen. Ist die Anfallssituation so stabil, dass die Fahrt möglich ist? Gibt es unter den Lehrerinnen und Lehrern oder Begleitpersonen jemanden, der Kenntnisse bei Kindern mit Epilepsien hat und verantwortungsvoll bei einem Anfall reagieren kann? Wenn nicht: Gibt es die Möglichkeit, vorher noch eine Schulung oder Informationsveranstaltung zu besuchen? Wie kann Lisa selber Verantwortung übernehmen, z. B. beim Umgang mit Wasser bzw. beim Schwimmen im Meer (oder vielleicht auch auf das Schwimmen verzichten)? Wer kann etwas dazu beitragen, dass Lisas Wunsch umsetzbar wird?

Bülent, 5 Jahre: Ich will nächstes Jahr in die Schule!

Nächstes Jahr wird Bülent 6 Jahre alt und seine beiden besten Freunde aus dem Kindergarten werden eingeschult. Die Eltern haben allerdings Bedenken, da Bülent zu Hause und im Kindergarten sehr unruhig ist und auch die Heilpädagogin Bedenken geäußert hat. Auch seitens des Kindergartens wird eher zu einer Rückstellung geraten. Andererseits berichten die Eltern, dass sich Bülent schon jetzt für Zahlen und Buchstaben interessiert und seinem großen Bruder nacheifert. Profitiert Bülent von einem weiteren Jahr im Kindergarten oder wird er sich dort eher langweilen? Welcher Aspekt der emotionalen Entwicklung ist wichtiger: der Zusammenhalt mit seinen Freunden oder das "emotionale Nachreifen"? Gibt es Unterstützungsmöglichkeiten seitens der Schule, wenn Bülent im kommenden Jahr eingeschult wird?

Mario, 14 Jahre: Ich möchte eine Freundin kennenlernen!

Gut nachvollziehbar! Viele Jungen in diesem Alter tun sich allerdings schwer mit der Umsetzung eines solchen Wunsches. Die Mädchen sind typischerweise doch in der Entwicklung weiter und springen nicht immer auf das jungentypische Verhalten in diesem Alter an. Wie kann es Mario mit seinem Down-Syndrom gelingen, trotzdem ein Mädchen kennenzulernen und seine Sehnsucht nach der romantischen Liebe zu verwirklichen? Gibt es entsprechende (inklusive) Angebote für Jugendliche in der Umgebung, die auch erreicht werden können? Wie gehen die Eltern mit ihren Sorgen um, dass die "romantische Liebe" auch zu mehr führen könnte? Wird Mario die Signale richtig deuten können, auch Grenzen akzeptieren? Welchen Beitrag kann die Schule leisten, welchen Beitrag die Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte?

Natürlich haben Sie es gemerkt: Bei all diesen kurzen Fallskizzen und Überlegungen stehen gar keine Diagnosen im Vordergrund, sondern der Alltag. Manche Wünsche für die Zukunft werden aus rein fachlicher Sicht nicht unbedingt realistisch sein. Es gibt häufig nicht nur richtige und falsche Lösungen, sondern für einzelne Betroffene mehr oder weniger gute Kompromisse. Dennoch sollten wir nicht für die Kinder und Familien entscheiden, was möglich ist und was nicht. Die meisten haben ohnehin ein Gespür dafür, was auch realistisch ist und was möglicherweise ein Traum bleiben wird. Dennoch gilt: Träume müssen erlaubt sein! Auch viele Kinder ohne "Behinderung" oder Beeinträchtigung wollen Astronaut, Model, Rennfahrer oder Influencer werden. Dies passt sich dann im Laufe des Lebens schon ein wenig an.

Einer der wichtigsten Aspekte dieses Themas ist eben die Auseinandersetzung mit der Zukunft, was sich insbesondere an Transitionsstellen zeigt: Dies kann den ersten Besuch der Kindertagesstätte genauso umfassen wie der Wechsel auf die Schule und die spätere Tätigkeit in Ausbildung, Studium oder Beruf. Hilfreiche Fragen hierbei sind:

  • Wie geht es Ihnen, wenn Sie an die Zukunft denken?
  • Was sind die Erwartungen, Wünsche und Träume für Ihre Familie, Sie selbst und Ihr Kind?
  • Wovon brauchen Sie mehr?
  • Wovon brauchen Sie weniger?

Zukunft ist für uns Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte immer wieder Thema, da die notwendigen medizinischen Versorgungsstrukturen noch nicht überall vorhanden sind und auch beispielsweise Tagestrukturen, Arbeitsplätze und Freizeitangebote für junge Erwachsene mit Beeinträchtigung fehlen.

Es braucht oft viel Eigeninitiative der Familien, wie folgendes Beispiel zeigt:

Nadine, 30 Jahre

Die junge Frau war über 18 Jahre bei uns in Behandlung. Jahrelang hatte sie bei beinbetonter spastischer CP (GMFCS IV) neuropädiatrische Kontrollen, funktionelle Therapien, orthopädische Untersuchungen und Operationen. Die großen Ziele von Nadine, ihrer Familie und des interdisziplinären Teams waren Lebensqualität, Teilhabe und Selbstständigkeit. Um das zu erreichen, waren viele Zwischenziele notwendig. Diese sollten konkret, alltagsrelevant und erreichbar sein. Nadine hat eine großartige Familie, die ihre Tochter immer in ihren Wünschen und Träumen respektiert und unterstützt hat. Trotz viel Gegenwind absolvierte Nadine die Regelschule und fand als junge Erwachsene nach einem Studium einen Arbeitsplatz am ersten Arbeitsmarkt als Referentin im Sozialbereich. Auch ihr Wunsche nach einer erfüllten Partnerschaft ist gelungen und Nadine ist seit einigen Jahren verheiratet. Der nächste logische Schritt war die Gründung einer Familie. Um diesen Wunsch umzusetzen, übersiedelte das junge Paar zurück von der Großstadt in das Elternhaus im ländlichen Bereich, da es klar war, dass die junge Frau bei der Versorgung eines Kindes Unterstützung benötigen wird. Das Haus wurde mit viel Eigeninitiative baulich an die Bedürfnisse angepasst. Eine persönliche Assistenz, unterstützende Großeltern sowie ein Ehemann, der seine Arbeit auch teilweise im Homeoffice absolvieren kann, machten die Erfüllung des Kinderwunsches real. Sollte das nicht auch die Aufgabe der Gesellschaft sein?

Nadine wurde schwanger und ihr kleiner Sohn kam nach einem vorzeitigen Blasensprung in der 25. SSW auf die Welt. Die junge Mutter gibt bei der Erstvorstellung ihres Kindes im Ambulatorium (SPZ) an: "Es ist wie ein ‚Deja-vu‘ – aber er ist ein ‚Kämpfer‘ genauso wie ich."

Ziel der Umsetzung der F-Words ist es, dass in Zukunft für Menschen mit einer Beeinträchtigung nicht nur ihre Träume und Ziele dieselben wie für Menschen ohne solche Beeinträchtigungen sind, sondern auch deren Umsetzung nicht zu einem Kampf, sondern zu einer Selbstverständlichkeit wird.


Literatur
1. Rosenbaum P, Gorter JW (2012) The "F-words" in childhood disability: I swear this is how we should think! Child:care, health and development 38: 457 – 463
2. https://canchild.ca/en/resources/280-world-cp-day-posters, abgerufen am 14.01.23

Autoren:
Prim. Dr. Susanne Katzensteiner
Ambulatorium f. Entwicklung- u. Sozialpädiatrie Amstetten der VKKJ
Anton-Schwarz-Straße 10
A-3300 Amstetten
Tel.: +43 (0) 74 72/2 56 90
Fax: +43 (0) 74 72/2 56 90-80 03>
Interessenkonflikt:
Die Autoren geben an, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Beitrag haben.

Prof. Dr. med. Peter Borusiak
Kinderneurologisches Zentrum Bonn


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2024; 95 (2) Seite 124-126